Abstract:
Hintergrund: Demenzerkrankungen kennzeichnen sich nicht nur durch Veränderungen der Kognition, sondern beeinflussen auch die motorische Leistungsfähigkeit. Im Vergleich zu kognitiv gesunden älteren Menschen, zeigen Personen mit Demenz eine reduzierte motorische Leistung und sind häufiger von motorischen Beeinträchtigungen betroffen, z. B. im Bereich des Ganges, des Gleichgewichts, der Mobilität oder der Kraft. Motorische Beeinträchtigungen führen u. a. zu einem zunehmenden Verlust der Selbstständigkeit und einem erhöhten Pflegebedarf. Sie haben einen negativen Einfluss auf die Lebensqualität und stellen eine große Herausforderung für Betroffene und ihre Angehörigen dar. ... mehrUnter Berücksichtigung der hohen Demenzprävalenz besteht ein großer Bedarf an effektiven Behandlungsmöglichkeiten von Demenzerkrankungen. Bislang gibt es keine ursächlichen Therapiestrategien und medikamentöse Maßnahmen gehen mit verschiedenen Nebenwirkungen einher. Daher gewinnen nichtmedikamentöse Ansätze wie z. B. körperliche Aktivität zunehmend an Bedeutung. Zahlreiche Studien untersuchen den Einfluss körperlicher Aktivität auf die Motorik, den Gang und die Kognition bei Personen mit Demenz. Aufgrund methodischer Limitationen dieser Studien liegt bisher jedoch keine gesicherte Evidenz vor. Im Mittelpunkt dieser Thesis steht die Untersuchung der Effekte körperlicher Aktivität auf die Motorik und den Gang bei Personen mit Demenz. Hierbei werden zwei Ziele verfolgt: 1) die Erarbeitung eines qualitativ hochwertigen methodischen Ansatzes zur Untersuchung der Effektivität körperlicher Aktivität bei Personen mit Demenz und 2) die Durchführung einer qualitativ hochwertigen randomisierten kontrollierten Studie, die die Effekte eines demenzspezifischen multimodalen Bewegungsprogrammes auf die Motorik und den Gang bei Personen mit Demenz überprüft.
Methoden: Die Bearbeitung der oben genannten Ziele erfolgte anhand von zwei übergeordneten und vier untergeordneten Fragestellungen, aus denen sieben Hypothesen abgeleitet wurden. In einem ersten Schritt wurde aufbauend auf einer umfangreichen Analyse des aktuellen Forschungstandes sowie bisherigen Studien ein qualitativ hochwertiges methodisches Vorgehen erarbeitet. Der Schwerpunkt lag hierbei auf der Bewertung der Eignung bisher verwendeter motorischer Testverfahren für Personen mit Demenz. Darüber hinaus wurde im Rahmen eines Studienprotokolls ein Studiendesign entwickelt, das aus dem Stand der Forschung abgeleitete Qualitätskriterien erfüllt und die Besonderheiten von Personen mit Demenz berücksichtigt. Dieses erarbeitete qualitativ hochwertige methodische Vorgehen wurde in einem zweiten Schritt im Rahmen einer randomisierten kontrollierten Studie eingesetzt. Hierfür wurden 319 Personen mit leichter bis mittelschwerer Demenz randomisiert einer Interventions- oder Kontrollgruppe zugeteilt. Die Interventionsgruppe absolvierte ein 16-wöchiges multimodales Bewegungsprogramm, das die Besonderheiten der Zielgruppe berücksichtigt. Zur Überprüfung der Effekte dieses Bewegungsprogrammes wurden die motorische und die Gangleistung aller Teilnehmenden vor und nach der Intervention mit einer umfangreichen Testbatterie überprüft. Neben der Bestimmung von Zeit*Gruppen Effekten auf die Motorik und den Gang, wurden mithilfe von Responder-Nicht-Responder-Analysen und multiplen linearen Regressionen Voraussetzungen und zugrundeliegende Anpassungen identifiziert, die mit den beobachteten Änderungen der Gangleistung zusammenhängen.
Ergebnisse: Anhand von Limitationen bisheriger Studien, die in aktuellen systematischen Reviews identifiziert wurden, wurden verschiedene methodische Qualitätskriterien definiert. Neben einem allgemeinen qualitativ hochwertigen methodischen Vorgehen, wurden v. a. die Verwendung von geeigneten motorischen Testverfahren und an die Zielgruppe angepassten Interventionen als wesentliche Qualitätsmerkmale ermittelt. Eine qualitative Überprüfung bisher eingesetzter motorischer Tests unterstreicht die Bedeutung von für die Zielgruppe geeigneten Verfahren. Zudem wurde die Verwendung eines sequenziellen Ansatzes, eine Auswahl an acht motorischen Testverfahren sowie das Zulassen von standardisierten Wiederholungen der Instruktionen und des Einsatzes von gängigen Hilfsmitteln empfohlen. Basierend auf einer quantitativen Bewertung wurden acht motorische Tests empfohlen, die sich durch ausreichende relative Reliabilität, angenommene Sensitivität und häufige Verwendung in bisherigen Studien auszeichnen. Allerdings sind diese Testverfahren aufgrund ihrer ungenügenden absoluten Reliabilität nur begrenzt geeignet um intraindividuelle Veränderungen der motorischen Leistung zu erfassen. Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse zu geeigneten motorischen Testverfahren, wurde ein qualitativ hochwertiges Studiendesign entwickelt. Darüber hinaus zeigte eine randomisierte kontrollierte Studie zur Überprüfung der Wirksamkeit körperlicher Aktivität keine statistisch signifikanten Zeit*Gruppen Effekte auf die motorische und die Gangleistung von Personen mit Demenz. In weiteren explorativen Analysen wurden Unterschiede in der Ausgangsleistung des Ganges, der Mobilität, der Kraft und dem Grad der kognitiven Beeinträchtigung zwischen Positiv-, Nicht- und Negativ-Respondern beobachtet. Zudem erklären Änderungen der Kraft und Funktion der unteren Extremitäten, der Mobilität, der exekutiven Funktion, der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses 39.4 % der Varianz der Änderung der Gangleistung.
Schlussfolgerungen: Die vorliegende Thesis leistet einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der methodischen Qualität von Studien zur Überprüfung der Wirksamkeit körperlicher Aktivität auf die motorische und die Gangleistung von Personen mit Demenz. Sie beinhaltet eine umfangreiche Auseinandersetzung mit motorischen Testverfahren, die für Personen mit Demenz geeignet sind, und schlägt ein qualitativ hochwertiges allgemeines methodisches Vorgehen vor, an dem sich zukünftige Studien orientieren können. Dennoch besteht weiterer Forschungsbedarf zur Verbesserung des methodischen Vorgehens im Forschungsfeld. Beispielsweise müssen die theoretisch erarbeiteten Empfehlungen für motorische Testverfahren in entsprechenden Studien überprüft und neue motorische Tests speziell für Personen mit Demenz entwickelt und untersucht werden. Neben diesen methodischen Empfehlungen und Forschungsperspektiven liefert die Thesis wichtige Erkenntnisse für die Gestaltung und Umsetzung von Bewegungsprogrammen, die an die Besonderheiten der Zielgruppe angepasst sind. Die Hypothese, dass ein demenzspezifisches multimodales Bewegungsprogramm sich positiv auf die motorische und die Gangleistung von Personen mit Demenz auswirkt, konnte nicht bestätigt werden. Damit lässt sich zeigen, dass ein standardisiertes Bewegungsprogramm für die heterogene Zielgruppe von Personen mit Demenz nur begrenzt geeignet ist. Ein Anteil von bis zu 40 % an Positiv-Respondern sowie die Identifizierung von notwendigen Voraussetzungen und Anpassungen der zugrundeliegenden motorischen und kognitiven Leistung, erlauben die Annahme, dass die Wirksamkeit körperlicher Aktivität auf komplexeren Mechanismen beruht und eine Berücksichtigung des Individuums erfordert. Daher bieten Ansätze aus der individualisierten Medizin vielversprechende Perspektiven. Es wird davon ausgegangen, dass die Effektivität körperlicher Aktivität gesteigert werden kann, wenn Interventionen an die individuellen Voraussetzungen der Teilnehmenden angepasst sind. Entsprechende Ansätze müssen in zukünftigen Studien konkretisiert und untersucht werden. Beispielsweise stellt die Identifikation charakteristischer Merkmale eine vielversprechende Forschungsperspektive dar, die es erlaubt Personen mit Demenz besser zu beschreiben und verschiedene Cluster mit unterschiedlichen Anforderungen zu definieren. Neben der Ableitung zahlreicher Forschungsperspektiven erlauben die Ergebnisse dieser Thesis wichtige anwendungsbezogene Implikationen, die ihre praktische Relevanz unterstreichen. Hierzu zählen grundlegende Hinweise zur Gestaltung und Umsetzung von Bewegungsprogrammen für Personen mit Demenz, aber auch die konkrete Anwendung der Empfehlungen zu motorischen Testverfahren und des multimodalen Bewegungsprogrammes im Alltag von Pflegeeinrichtungen. Körperliche Aktivität bietet ein großes Potential für den Umgang mit Demenzerkrankungen in unserer Gesellschaft. Qualitativ hochwertige Forschung wie diese Thesis tragen dazu bei, dass dieses Potential ausgeschöpft werden kann und möglichst viele von der Erkrankung betroffene Personen und ihre Angehörigen die Möglichkeit haben von den positiven Effekten körperlicher Aktivität zu profitieren.
Abstract (englisch):
Background: Dementia is not only characterized by cognitive changes but also has an impact on motor performance. Compared to cognitively unimpaired older adults, individuals with dementia (IWD) show a decreased motor performance and are frequently affected by motor impairments, e.g. in gait, balance, mobility, and strength. Motor impairments are related to an increasing loss of independence and a high need for care. Furthermore, they reduce quality of life and represent huge challenges for affected individuals and their caregivers. Considering the high prevalence of dementia, there is a great need for effective treatments of this disease. ... mehrSo far, there are no causal therapy strategies, and pharmacological approaches are associated with various side effects. Therefore, non-pharmacological strategies such as physical activity are becoming increasingly important. Numerous studies investigate the effectiveness of physical activity on motor, gait, and cognitive performance in IWD. Due to methodological limitations, however, evidence is still limited. This thesis focuses on the investigation of the effectiveness of physical activity on motor and gait performance in IWD. It pursues the following objectives: 1) to establish a high-quality methodological approach to investigate the effectiveness of physical activity in IWD, and 2) to perform a high-quality randomized controlled trial examining the effects of a dementia-specific multimodal exercise program on motor and gait performance in IWD.
Methods: The above-mentioned objectives were carried out on the basis of two primary and four secondary research questions, from which seven hypotheses were derived. In a first step, a high-quality methodological approach was established based on a comprehensive examination of the current state of research and previous studies. It focused on the evaluation of the adequateness of motor assessments previously applied in IWD. In addition, a study design, which fulfills quality criteria derived from the current state of research and considers specific characteristics of IWD, was developed within the framework of a study protocol. In a second step, this high-quality methodological approach was applied in a randomized controlled trial. For this purpose, 319 individuals with mild to moderate dementia were randomly assigned to an intervention or control group. The intervention group participated in a 16-week multimodal exercise program specifically tailored to IWD. In order to examine the effects of this multimodal exercise program, motor and gait performance of all participants was assessed with a comprehensive assessment battery before and after the intervention. In addition to determining time*group effects on motor and gait performance, responder-non-responder-analyses and multiple linear regression models were used to identify prerequisites and impacts of changes in underlying motor and cognitive performance on changes in gait performance.
Results: Based on the limitations of previous studies as identified in recent reviews, various methodological quality criteria were defined. In addition to a general high-quality methodological approach, the use of adequate motor assessments and interventions tailored to IWD were determined as key issues. A qualitative examination of motor assessment used in previous studies emphasized the importance of adequate assessments for the target group. In addition, the use of a sequential approach, a selection of eight motor assessments, and the allowance of standardized repetitions of instructions as well as use of walking aids were recommended. Based on a quantitative evaluation, eight motor assessments, which are characterized by sufficient relative reliability, assumed sensitivity, and frequent use in previous studies were recommended. Considering insufficient absolute reliability, the adequateness of these motor assessments, however, is limited for examining intra-individual changes. Taking into account these findings on adequate motor assessments, a high-quality study design was developed. In addition, a randomized controlled trial examining the effectiveness of a multimodal exercise program showed no statistically significant time*group effects on motor and gait performance in IWD. In further exploratory analyses, differences in baseline performance of gait, mobility, strength, and severity of cognitive impairments were observed between positive, non-, and negative responders. Moreover, the impacts of changes in strength and function of lower limbs, mobility, executive function, attention, and working memory explained up to 39.4 % of the variance of changes in gait performance.
Conclusion: This thesis presents an important contribution to improving the methodological quality of studies investigating the effectiveness of physical activity on motor and gait performance in IWD. It includes a comprehensive examination of adequate motor assessments and suggests an overall high-quality methodological approach, which can be useful for future studies. Nevertheless, additional investigations are required to further improve methodological approaches in this field of research. For example, the theoretically established recommendations on motor assessments must be evaluated in appropriate studies and new motor assessments specifically tailored to IWD are needed. In addition to these methodological recommendations and research perspectives, this thesis provides important findings for designing and implementing future physical activity interventions that consider the specific characteristics of the target group. The hypothesis that a dementia-specific multimodal exercise program has a positive effect on motor and gait performance in IWD could not be confirmed. This shows that a standardized physical activity intervention is only suitable to a limited extent for this heterogeneous target group. A proportion of up to 40 % of positive responders as well as the identification of necessary prerequisites and changes in underlying motor and cognitive performance allow the assumption that the effectiveness of physical activity is dependent on more complex mechanisms and requires the consideration of individual characteristics. Therefore, approaches from individualized medicine offer promising perspectives. In line with this, it is assumed that the effectiveness of physical activity can be increased if appropriate interventions are tailored to individual prerequisites of participants. Such approaches must be specified and investigated in future studies. For example, the identification of specific characteristics represents a promising research perspective that allows to better describe IWD and to define different clusters of participants with various prerequisites. In addition to the derivation of numerous research perspectives, the results of this thesis also have important application-oriented implications that emphasize its practical relevance. These include indications on designing and implementing physical activity interventions for IWD, but also the concrete application of recommendations on motor assessments and the multimodal exercise program in everyday life of care facilities. In summary, physical activity offers great potential for dealing with dementia in our society. High-quality research such as the manuscripts included in this thesis contribute to exploit this potential and may enable IWD and their caregivers to benefit from the positive effects of physical activity.