Abstract:
In der 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) werden alle kategorialen Persönlichkeitsstörungen durch dimensionale Klassifikationen ersetzt, mit Ausnahme der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), welche auch künftig in Form eines Borderline-Qualifiers diagnostiziert werden kann. Andere psychische Störungen werden durch Defizite oder Exzesse definiert, wohingegen eine Besonderheit der BPS ihre Charakterisierung als tiefgreifendes Muster von Instabilität darstellt. Der Goldstandard um den dynamischen Verlauf der BPS-Symptomatik zu erfassen, ist die Methode des Ambulanten Assessments (AA), worunter man die Verwendung von computergestützten Methoden wie elektronischen Tagebüchern zur wiederholten Erfassung von selbstberichteten Symptomen, Verhaltensweisen oder physiologischen Prozessen im Alltag von Menschen versteht. ... mehrNeuere AA-Studien haben die Spezifität der als Kernmerkmal für die BPS geltenden affektiven Instabilität in Frage gestellt, sodass diese inzwischen allgemein als transdiagnostischer Mechanismus angesehen wird. Das Ziel in dieser Dissertation war es, die emotionale Dysregulation und Instabilität im Alltag von Individuen mit BPS aus einer Perspektive zu betrachten, indem bislang wenig untersuchte Konstrukte wie Emotionssequenzen, das Auftreten spezifischer Emotionen und die Selbstwertinstabilität erforscht wurden. Die Spezifität dieser Konstrukte für die BPS wurde untersucht, indem Stichproben von Patientinnen mit BPS mit verschiedenen klinischen Kontrollgruppen und gesunden Kontrollgruppen verglichen wurden.
In Studie 1 untersuchte ich in einer Stichprobe von 43 Patientinnen mit BPS, 28 Patientinnen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS), 20 Patientinnen mit Bulimia nervosa (BN) und 28 gesunden Kontrollprobandinnen dysregulierte Emotionssequenzen, d.h. Muster emotionaler Aktivierung, Persistenz und Herunterregulierung sowie Wechsel von einer Emotion zur anderen. Die momentanen Emotionen im Alltag der Teilnehmerinnen wurden in einem hochfrequenten Studiendesign alle 15 Minuten in einem Zeitraum von 24 Stunden mittels elektronischer Tagebücher erfasst. Gruppenunterschiede in den relativen Häufigkeiten der Emotionssequenzen wurden in Varianzanalysen verglichen. Die Studienergebnisse replizierten Befunde einer früheren Studie zu fünf dysregulierten Emotionssequenzen bei der BPS: Im Vergleich zu gesunden Kontrollpatientinnen zeigten Patientinnen mit BPS ein häufigeres Auftreten von persistierender Angst sowie von Traurigkeit, mehr Wechsel von Angst zu Traurigkeit, von Traurigkeit zu Angst und von Angst zu Ärger. Keine dieser dysregulierten Emotionssequenzen wies jedoch eine BPS-Spezifität auf, d.h. keine trat häufiger auf als in der PTBS-Gruppe oder der BN-Gruppe.
In Studie 2 wurde mit dem gleichen Datensatz untersucht, ob Patientinnen mit BPS störungsspezifische Unterschiede in der Häufigkeit und Intensität spezifischer Emotionen sowie in der mit diesen spezifischen Emotionen verbundenen Anspannung aufweisen. Die Ergebnisse der Mehrebenenanalysen zeigten, dass Patientinnen mit BPS alle erfassten negativen Emotionen häufiger und fast alle negativen Emotionen intensiver erleben als gesunde Kontrollpatientinnen. Patientinnen mit BPS erlebten im Alltag häufiger Ärger als jede andere Studiengruppe. Dieser Befund sticht aus den sonst weitgehend transdiagnostischen Mustern ohne bedeutsame Unterschiede zwischen den klinischen Gruppen hervor und deutet auf eine BPS-Spezifität in der Häufigkeit von Ärger hin. Hinsichtlich der Intensität von Ärger wurden keine für die BPS spezifischen Unterschiede gefunden; allerdings war Ärger war die einzige Emotion, die über die emotionale Intensität hinaus zu einer zusätzlichen Anspannung führte.
Studie 3 befasste sich mit der affektiven Instabilität und dem bislang wenig beachteten Diagnosekriterium der Selbstwertinstabilität. Das momentane Selbstwertgefühl und die Stimmung von Probandinnen wurden in einer Stichprobe von 131 Patientinnen mit BPS, 121 Patientinnen mit Angststörungen und 134 gesunden Kontrollprobandinnen zwölf Mal pro Tag an vier aufeinander folgenden Tagen abgefragt. Drei etablierte Instabilitätsindizes wurden in Mehrebenenmodellen analysiert, um Gruppenunterschiede in der Selbstwertinstabilität und der affektiven Instabilität zu bestimmen. Sowohl bei Patientinnen mit BPS als auch bei Patientinnen mit Angststörungen waren die Selbstwertinstabilität und die affektive Instabilität höher ausgeprägt als bei den gesunden Kontrollpatientinnen. Das bedeutendste Ergebnis war, dass Patientinnen mit BPS über alle Instabilitätsindizes hinweg eine signifikant höhere Selbstwertinstabilität aufwiesen als Patientinnen mit Angststörungen. Dagegen zeigte sich bei der affektiven Instabilität ein transdiagnostisches Muster, was darauf hindeutet, dass die Instabilität des Selbstwertgefühls die BPS stärker definiert als die affektive Instabilität.
Zukünftige AA-Studien sollten Stichproben verwenden, die ein breites Spektrum von dimensionalen Persönlichkeitsmerkmalen abdecken, um für die BPS spezifische Merkmale von Persönlichkeitsstörungen im Alltag zu entschlüsseln. Neue AA-Methoden könnten zusätzliche Erkenntnisse zum sozialen Kontext liefern, in welchem sich die emotionale Dysregulation und Instabilität bei Menschen mit BPS zeigt.
Abstract (englisch):
In the 11th revision of the International Classification of Diseases (ICD-11), all categorical personality disorders will be replaced by dimensional classifications, except for borderline personality disorder (BPD), which will be represented in the form of a borderline qualifier. While other mental disorders are defined by deficits or excesses, a peculiarity of BPD is its characterization as a pervasive pattern of instability. Ambulatory assessment (AA), i.e., the use of computer-based methodology like electronic diaries (e-diaries) to repeatedly assess self-reported symptoms, behaviors, or physiological processes in individuals’ daily lives, has become the gold standard to capture the dynamic course of BPD symptomatology. ... mehrHowever, recent AA studies have questioned the BPD specificity of the core feature of BPD, affective instability, which is commonly seen as a transdiagnostic mechanism by now. In this thesis, I took a look at emotion dysregulation and instability in the daily life of patients BPD from a novel perspective, analyzing understudied constructs like emotion sequences, the occurrence of specific emotions, and self-esteem instability. The BPD specificity of these constructs was investigated by comparing BPD samples to multiple clinical control groups and healthy controls (HCs).
In study 1, I examined dysregulated emotion sequences, i.e., patterns of emotion activation, persistence, and down-regulation as well as switches from one emotion to another, in 43 female patients with BPD, 28 patients with posttraumatic stress disorder (PTSD), 20 patients with bulimia nervosa (BN), and 28 HCs. Participants’ momentary emotions were assessed in their daily lives, using high-frequency e-diary assessments every 15 minutes for 24 hours. Variance analytic strategies were applied to determine group differences in the relative frequencies of emotion sequences. The study results replicated five previously reported dysregulated emotion sequences in BPD: Compared to HCs, patients with BPD displayed a higher frequency of persisting anxiety and sadness, more switches from anxiety to sadness, from sadness to anxiety, and from anxiety to anger. However, none of these dysregulated emotion sequences exhibited BPD specificity, i.e., none revealed higher frequencies than the PTSD group or the BN group.
In study 2, the same data set was used to investigate whether patients with BPD exhibit disorder-specific differences in the frequency and intensity of specific emotions as well as the distress associated with these specific emotions. Multilevel analyses revealed that patients with BPD experience all of the assessed negative emotions more frequently and nearly all of the negative emotions more intensely than HCs. Standing out from the otherwise largely transdiagnostic patterns without relevant differences between the clinical groups, patients with BPD experienced anger more frequently than any other study group, demonstrating specificity. No BPD-specific difference was found regarding the intensity of anger, but anger was the only specific emotion that contributed to distress above and beyond emotional intensity.
Study 3 addressed affective instability and the neglected criterion of self-esteem instability. In a large sample comprising 131 patients with BPD, 121 patients with anxiety disorders (ADs), and 134 HCs, momentary self-esteem and affective state were assessed 12 times daily for four consecutive days. Three established instability indices were analyzed in multilevel models to determine group differences in self-esteem instability and affective instability. Both in patients with BPD and with ADs, self-esteem instability and affective instability were higher than in HCs. Importantly, BPD patients’ self-esteem instability was significantly higher than that of patients with ADs across all instability indices, while affective instability showed a transdiagnostic pattern, suggesting that self-esteem instability defines BPD more than affective instability.
Future AA studies should use samples covering a wide range of personality patterns to unravel BPD-specific daily life manifestations of personality disorders. Novel AA methods should be applied to capture the social context surrounding emotion dysregulation and instability in BPD.