Eine digitale Geisteswissenschaft vom digitalisierten Geist – Bausteine der Grundlegung einer (digitalisierten) Philosophie des Digitalen. Realabstraktionen, „deep Intertwingularity“, Seltsame Schleifen, Goldene Bänder.
„Digitalisierung“ ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Eine digitale Philosophie ist nicht „Digital Science“ – sie bleibt eine Geisteswissenschaft, auch, wenn hier Untersuchungstechniken und Werkzeug aus den quantitativen „Wissenschaften von der Natur“ entnommen werden.
Was aber wäre das Produkt einer digitalen Philosophie? Auch: Die Herstellung ihres eigenen Untersuchungsgegenstandes – des vergegenständlichten Untersuchungsprozesses in Modell und Gerät, der dann selbst wieder Untersuchungsgegenstand der Geisteswissenschaften werden kann. Dies ist eine bemerkenswerte, interessante Eigenschaft einer digitalen Geisteswissenschaft vom Geist.
Die Frage, ob sich Artefakte der und Gedanken über die Digitalität wechselseitig bespiegeln oder rückgekoppelt komplex verschränken, ist noch offen. Sie kann aber hervorragend an Digitalartefakten, ihrer Genese und Handhabung diskutiert werden. Wenn wir die Entstehung der modernen Naturwissenschaft an der letzten Epochenschwelle untersuchen wollen, können wir Galileis Diskussionspartnern ins venezianische Arsenal folgen und Fernrohre oder Mikroskope oder Zeichentechniken betrachten. ... mehrWenn es um unsere rezente allumfassende Transformationserfahrung geht, können wir auf unsere global vernetzten „eingeboxten“ (Universal-)Rechnersysteme blicken und mit Ted Nelson schreiben: „Everything is deeply intertwingled!“.
Und nicht zuletzt diskutieren wir eine Umschreibung unserer epistemischen Grundlagen: Nicht mehr die wirkkausale Ordnung der Dinge – entlang einer causa efficiens – ist zentral, wenn wir programmieren, sondern das Denken in den „seltsamen Schleifen“ der Rückkopplung. Die Uhrwerke der Neuzeit sind aber als Leitartefakt keine Feedbackmaschinen. Eine Herausforderung an eine Philosophie der Digitalität ist also die Entwicklung einer Metaphysik für ein Post-Uhrwerks-Weltbild. Dies kann durchaus mit digitalen Mitteln – mit operationalisierten Modellen – geschehen.
Literatur:
Bolter, David Jay (1984): Turing‘s Man. Western Culture in the Computer Age, Chapel Hill.
Damerow, Peter/Levèfre Wolfgang (Hgg.) (1981), Rechenstein, Experiment, Sprache. Historische Fallstudien zur Entstehung der exakten Wissenschaften, Stuttgart.
Hofstadter, Douglas Richard (1979), Gödel, Escher, Bach. An Eternal Golden Braid, New York.
Mahr, Bernd (2003): „Modellieren. Beobachtungen und Gedanken zur Geschichte des Modellbegriffs“, in: Krämer, Sybille/Bredekamp, Horst (Hgg.), Bild – Schrift – Zahl, München, 59-86. (=Kulturtechniken 1)
McLaughlin, Peter/Schlaudt, Oliver (2020): „Real Abstraction in the History of the Natural Sciences”, in: Oliva, Antonio/Oliva, Ángel/Novara, Iván (Hgg.), Marx and Contemporary Critical Theory. The Philosophy of Real Abstraction, London, 307-318.
Nelson, Theodor Holm (1965): „A File Structure for the Complex, the Changing and the Indeterminate“, in: Proceeding of the ACM '65, New York, S. 84–100.
Turing, Alan Mathison (1950): „Computing Machinery and Intelligence“, in: Mind 59 (236), 433–460.
Vater, Christian (in Vorbereitung 2021): „Alan Turing und der Unterschied zwischen Mensch und Maschine. Eine Problemstellung zwischen Wissenschafts- und Technikgeschichtsschreibung“, Heidelberg.
Akademischer Kurzlebenslauf:
Christian Vater hat in Köln und Kassel Philosophie, Deutsche Philologie und Geschichte studiert und Ende 2020 seine Dissertationsschrift in Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte zu Alan M. Turing und dem Unterschied zwischen Mensch und Maschine am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg bei Peter McLaughlin eingereicht. 2020 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Karlsruher Institut für Technologie KIT, Department für Geschichte, Professur für Geschichte der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation (Prof. Marcus Popplow) im Heidelberg-Karlsruhe Exzellenzprojekt „Die Zukunft Zeichnen“ zum Einsatz von Diagrammen in der Frühen Künstlichen Intelligenzforschung am Beispiel Karl Steinbuchs. Dort ist er zurzeit auch Gastwissenschaftler und Lehrbeauftragter. Von 2014-2019 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heidelberger Sonderforschungsbereich 933 „Materiale Textkulturen“ im Teilprojekt „Schrifttragende Artefakte in Neuen Medien“. Er ist Mitherausgeber von Sammelbänden zur Geschichte der Schrift, zum Versiegeln und Öffnen von Black Boxes und zu KI und Weltverstehen.