Politisierung oder Aufklärung? Zur Rolle wissenschaftlicher Expert:innen im öffentlichen Diskurs über Covid-19
Problemaufriss, theoretischer Bezugsrahmen und Fragestellungen
Zeiten, die besonders stark durch ein bestimmtes Ereignis oder Thema geprägt sind, wie etwa die Covid-19-Pandemie, können im Sinne Wollings (2005) als sog. „Spezialzeiten“ bezeichnet werden. Aufgrund ihrer (normativen) Bedeutsamkeit und/oder besonderen Brisanz für die Bevölkerung ist der öffentliche, mediale Diskurs in solchen Zeiten stark von dem jeweils relevanten Thema dominiert.
Anders als in „Normalzeiten“ (Wolling, 2005) ist es aus diskurstheoretischer Perspektive insbesondere in Spezialzeiten notwendig, dass die öffentliche Diskussion dieser Themen nicht auf politische Akteur:innen (dem sog. ‚politischen Zentrum‘) beschränkt bleibt, sondern dass auch Akteur:innen aus der sog. ‚Peripherie‘, also zivilgesellschaftliche Akteur:innen, etwa wissenschaftliche Expert:innen, in die öffentliche Diskussion eingebunden werden (vgl. Habermas, 1992; Ferree et al., 2002).
Unser Vortrag zielt daher erstens auf eine Analyse der Akteursstruktur innerhalb des öffentlichen (medialen) Diskurses über die Covid-19-Pandemie ab (und zwar im Vergleich zu anderen öffentlichen Gesundheitsdebatten). ... mehrWir fragen, welche Akteur:innen in den öffentlichen Gesundheitsdiskurs eingebunden wurden und die Chance erhielten, diesen inhaltlich zu prägen – eine Frage, die auch im Call for Papers zu dieser Jahrestagung explizit aufgeworfen wurde:
FF1a) Welche gesellschaftlichen Akteursgruppen kommen zu welchen Anteilen in der medialen Berichterstattung über Covid-19 zu Wort?
FF1b) Verändert sich die Akteursstruktur innerhalb der medialen Berichterstattung über Covid-19 im Zeitverlauf?
FF1c) Zeigen sich Unterschiede im Vergleich zu anderen öffentlichen Gesundheitsdebatten?
Insbesondere bei Diskursen über gesundheitliche Risikophänomene ist zu erwarten, dass wissenschaftliche Expert:innen als periphere Akteur:innen eine bedeutende Rolle einnehmen, da speziell diese Akteursgruppe über das nötige Fachwissen verfügt, um wissenschaftlich fundierte Aussagen, Analysen und Einschätzungen geben zu können, die sowohl für das politische Zentrum als auch die Bevölkerung als Ganzes von Bedeutung sind (vgl. u.a. Autoren; Albaek et al., 2003; Blöbaum, 2004; Huber, 2014; Nölleke, 2013; Peters, 2008; Schäfer, 2007; Soley, 1994). Insofern liegt der Fokus unserer Analyse innerhalb der peripheren Akteur:innen auf Wissenschaflter:innen.
Entscheidend für den öffentlichen Diskurs ist selbstverständlich nicht nur, welche Akteur:innen in diesen einbezogen werden, sondern auch, welche (Art von) Aussagen sie tätigen. Zwar ist es aus diskurstheoretischer oder auch normativ demokratietheoretischer Sicht wünschenswert, wenn periphere Akteur:innen wie wissenschaftliche Expert:innen in öffentliche Gesundheitsdiskurse einbezogen werden. Auf Basis der Diskurstheorie sowie des dezisionistischen Modells zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik (Weber, 1972) ergeben sich jedoch Legitimationsprobleme, wenn Wissenschaftler:innen sich nicht darauf beschränken, der Aufklärung dienliches Sachwissen in den Diskurs einzubringen, sondern auch mit politischen Forderungen aufwarten (vgl. Habermas, 1992; Ferree et al., 2002).
Unser Vortrag fokussiert daher zweitens auf die Art der Aussagen, die Akteur:innen des öffentlichen Diskurses äußern und insbesondere auf die Rolle, die wissenschaftliche Expert:innen in öffentlichen Gesundheitsdebatten einnehmen:
FF2a) Welche Art von Aussagen tätigen die verschiedenen Akteursgruppen innerhalb der medialen Berichterstattung über Covid-19?
FF2b) Verändert sich die Aussagenstruktur innerhalb der medialen Berichterstattung über Covid-19 im Zeitverlauf?
FF2c) Zeigen sich Unterschiede im Vergleich zu anderen öffentlichen Gesundheitsdebatten?
Befragt man Wissenschaftler:innen (vgl. u.a. Peters et al., 2008; Post, 2015) nach ihrem Rollenselbstverständnis in öffentlichen Diskursen, so sehen sie sich – ganz dem dezisionistischen Modell (Weber, 1972) verhaftet – überwiegend in der Rolle sachlicher ‚Aufklärer‘ und weniger in der Rolle derjenigen, die bestimmte politische Entscheidungen einfordern. Diese Selbsteinschätzung können wir mit unseren Daten inhaltsanalytisch überprüfen (vgl. auch Volpers & Summ, 2015).
Methode
Wir haben quantitative Inhaltsanalysen der medialen Diskurse über sieben gesundheitliche Risikophänomene, zuletzt der Covid-19-Pandemie, in einem Zeitraum von 1993 bis 2020 durchgeführt , deren Akteurs- und Aussagenstruktur wir themenvergleichend analysieren. Der thematische Vergleich dient einerseits zur Überprüfung, ob die Befunde zur Covid-19-Berichterstattung verallgemeinerbar sind (oder ob es sich dabei um eine ‚Spezialzeit unter den Spezialzeiten‘ handelt) und andererseits, um die Befunde einordnen und interpretieren zu können. Analysiert wurde für alle sieben Themen die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung, der Welt, des Spiegels und der dpa, sowie zusätzlich für ausgewählte Themen die Berichterstattung der Leipziger Volkszeitung, der New York Times, Newsweek, sowie den VDI Nachrichten.
Für die Erhebung haben wir zwei Untersuchungsebenen unterschieden: die Artikelebene (n = 10.490) und die in ausgewählten Artikeln (n = 4.908) enthaltenen Aussagen (n = 13.235), die individuellen oder institutionellen Akteur:innenn zugerechnet werden konnten, weil sie wörtlich oder indirekt zitiert wurden. Wir unterscheiden drei Aussagetypen (mit dazugehörigen Subkategorien):
1) handlungsbezogene (Forderungen konkreter (politischer) Handlungen),
2) substantiierende (quantifizierende Informationen zur Dimensionierung einer Gefährdung) und
3) risikobezogene (Bewertung einer Gefahrenquelle/ Risikoeinschätzung) Aussagen.
Erste Ergebnisse
Zusammengenommen deutet innerhalb der Covid-19-Berichterstattung die Verteilung der Aussagen auf die Akteursgruppen im Vergleich zu vorausgegangenen gesundheitspolitischen Risikodiskursen auf einen ‚vermachteten‘ Diskurs, in dem strategisch kommunizierende Akteur:innen deutlich überrepräsentiert sind, namentlich die politische Exekutive und Vertreter von Partialinteressen (Anhang, Abb.1), auf die 51 Prozent aller 6.383 Aussagen entfallen. Zivilgesellschaftliche Gruppen (Kollektivinteressen) und wissenschaftliche Akteur:innen sind demgegenüber deutlich unterrepräsentiert. Auf wissenschaftliche Expert:innen entfallen knapp 20 Prozent der Aussagen.
Betrachten wir die Corona-Debatte im Verlauf des Jahres 2020, erkennen wir, dass der Anteil von Expert:innenstatements in der öffentlichen Kommunikation mit den Inzidenzzahlen korrespondiert. In den Perioden des Jahres, in denen die Inzidenzzahlen steigen oder sinken und damit in Phasen, in denen das Orientierungsbedürfnis besonders groß ist, ist der Anteil von Expert:innenstimmen im Corona-Diskurs signifikant höher.
16,8 Prozent aller Aussagen im Coronadiskurs sind handlungsbezogen (1.073), 34,2 substantiieren die Gefahrenquelle (2.184). Bei 18 Prozent (1.151) handelt es sich um risikobezogene Deutungen. Annähernd die Hälfte der Aussagen ließ sich keiner der drei Kategorien zuordnen.
Das sich aus dem dezisionistischen Modell ergebende Muster der Zuordnung von Aussagentypen zu Akteursgruppen zeigt sich auch in der Corona-Debatte, allerdings deutlich schwächer ausgeprägt als bei den Vergleichsissues (Anhang, Abb. 2). Zwar sind wiss. Expert:innen bei den substantiierenden und risikodeutenden Aussagen sehr deutlich überrepräsentiert, sie sind aber bei den politischen Forderungen nur geringfügig unterrepräsentiert, was den markantesten Unterschied zwischen der Corona-Debatte und den Vergleichsissues ausmacht, wo sich ein dezisionistisches Muster deutlicher ausprägt. Dies ist als Ausdruck einer vergleichsweise etwas stärkeren Politisierung wissenschaftlicher Expert:innen in der Corona-Debatte zu deuten.
Literatur
Autoren
Albaek, E., Christiansen, P. M., & Togeby, L. (2003). Experts in the mass media:
researchers as sources in Danish daily newspapers, 1961-2001. Journalism and
Mass Communication Quarterly, 80(4), 937-948.
Blöbaum, B., Görke, A., & Wied, K. (2004). Quellen der Wissenschaftsberichterstattung: Inhaltsanalyse und Befragung [Endbericht]. Verfügbar unter: https://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/split_lehrstuehle/kommunikationswissenschaften_1/Dateien/Downloads/Veroeff/Kristina_Wied/Studie_Quellen_des_Wijo_2004.pdf
Ferree, M. M., Gamson, W. A., Gerhards, J., & Rucht, D. (2002). Four models of the public sphere in modern societies. Theory and Society, 31, 289-324.
Habermas, J. (1992). Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (2. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Huber, B. (2014). Öffentliche Experten. Über die Medienpräsenz von Fachleuten. Wiesbaden: Springer.
Nölleke, D. (2013). Experten im Journalismus. Systemtheoretischer Entwurf und empirische Bestandsaufnahme. Baden-Baden: Nomos.
Peters, H. P. (2008). Erfolgreich trotz Konfliktpotential. Wissenschaftler als Informationsquellen des Journalismus. In H. Hettwer, M. Lehmkuhl, H. Wormer, & F. Zotta (Hrsg.), WissensWelten. Wissenschaftsjournalismus in Theorie und Praxis (S. 108-130). Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.
Peters, H. P., Brossard, D., de Cheveigné, S., Dunwoody, S., Kallfass, M., Miller, S., & Tsuchida, S. (2008). Science communication. Interactions with the mass media. Science, 321(5886), 204-205.
Post, S. (2015). Scientific objectivity in journalism? How journalists and academics define
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Schäfer, M. S. (2007). Wissenschaft in den Medien. Die Medialisierung naturwissenschaftlicher Themen. Wiesbaden: Springer VS.
Soley, Lawrence C. (1994). Pundits in print: “Experts“ and their use in newspaper stories.
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Volpers, A., & Summ, A. (2015). Der Wandel des einst verspäteten Ressorts – Konstanten und Veränderungen der Wissenschaftsberichterstattung in deutschen Printmedien. In M. S. Schäfer, S. Kristiansen, & H. Bonfadelli (Hrsg.), Wissenschaftskommunikation im Wandel (S. 233-257). Wiesbaden: Springer.
Weber, M. (1972). Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (5. Aufl.). Tübingen: Mohr Siebeck.
Wolling, J. (2005). Normalzeit vs. Spezialzeit: besondere Ereignisse als Problem der Stichprobenziehung bei Inhaltsanalysen von Medienangeboten. In V. Gehrau, B. Fretwurst, B. Krause, & G. Daschmann, Auswahlverfahren in der Kommunikationswissenschaft (S. 138-157). Köln: Halem.