Abstract:
Das weltweit zunehmende Hausmüllaufkommen erfordert ein neues Systemdenken und neue Methoden der Wissenserweiterung zur Unterstützung der lokalen Akteure (z.B. der Abfallproduzenten, Entscheidungsträger und NGOs) insbesondere im Hinblick auf Themen der Nachhaltigkeit in den Schwellenländern. In den Schwellenländern ist es entscheidend, in den häufig durch schnelles wirtschaftliches Wachstum und extreme soziale Ungerechtigkeiten gekennzeichneten städtischen Regionen lokales Wissen, soziale Werte und Präferenzen mit einem systematischen Verständnis der weltweiten technologischen Entwicklung in der Abfallwirtschaft zu vereinen. ... mehrDie vorliegende Arbeit befasst sich mit den daraus resultierenden komplexen Alltagssituationen, die in einigen Städten bewältigt werden müssen und die in transformativen Ansätzen oft nicht berücksichtigt werden. Die brasilianische Stadt Belo Horizonte ist eine Lernplattform für die Erfassung, Darstellung und Analyse von Daten zu dieser umfassenden Herausforderung.
Belo Horizonte ist eine der Wirtschaftsachsen Brasiliens. Dort landen ca.98% des gesamten Hausmülls unbehandelt auf der Abfalldeponie. Der verbleibende Anteil entspricht dem von Menschen aus der armen Bevölkerung, d. h. von Müllsammlern, sortierten Abfall. Belo Horizonte ist ein verlässlicher Referenzort eines auf der Struktur der Organisation der Müllsammler in Kooperativen basierenden weltweit angewandten sozialen Modells. Dennoch wird die Stadt von vielen Entscheidungsträgern, Investoren und Wiederaufbereitungsunternehmen Stagnation attestiert. Der Fall Belo Horizonte soll als Strategie zur Beantwortung dreier problemorientierter Forschungsfragen im Rahmen dieser Arbeit verwendet werden:
I. Wie kann die Abfallwirtschaft in Belo Horizonte verbessert werden?
II. Stellt das soziale Modell von Belo Horizonte den besten Weg zur Verbesserung der Abfallwirtschaft im globalen Süden dar?
III. Was bezwecken wir in einem Zeitalter des zunehmenden und vernetzten technologischen Wandels mit dem Einbeziehen von Müllsammlern in die Abfallwirtschaft?
Die genannten Forschungsfragen sind bestimmend für den Ansatz dieser Arbeit. Wissenschaftler und Akteure sollen in die Lage versetzt werden, die Aspekte zu verstehen, derentwegen in den Schwellenländern Müllsammler im Sinne des gesellschaftlichen Wandels in die Abfallwirtschaft einbezogen werden sollten. Zur Erweiterung des methodischen Wissens, das mit Hilfe von vier im Zuge dieser Dissertation erarbeiteter Publikationen gewonnenen werden konnte, wurde als wissenschaftliches Instrument der dreiteilige transdisziplinäre Rahmen (Tripartite Tansdisciplinary Framework - TTF) entwickelt. Wie der Name sagt, ist der strukturelle Ansatz des TTF Teil miteinander verbundener Konzepte aus den Sozialwissenschaften und der transdisziplinären Forschung in den Nachhaltigkeitswissenschaften, etwa des idealtypischen transdisziplinären Forschungsprozesses, der wertorientierten Gestaltung und der historischen Analogien. Das Instrument des TTF hat dazu beigetragen, das im Laufe der transdisziplinären Forschung akkumulierte Wissen zu extrahieren. Dieses Wissen konnte durch das Aufzeigen von Problemen, das Darstellen der Beziehungen zwischen den Akteuren und das Beleuchten dreier möglicher wesentlicher Auswirkungen auf die soziotechnische Zukunft der Abfallwirtschaft in Belo Horizonte (Forschungsfrage I) gewonnen werden.
TTF lieferte darüber hinaus die zum Verständnis der Resilienz im Zusammenhang mit der Beantwortung von Forschungsfrage II und des grenzüberschreitenden Denkens im Zusammenhang mit der Beantwortung von Forschungsfrage III erforderliche Struktur.
Um die soziotechnische Zukunft der Abfallwirtschaft in Belo Horizonte voranzutreiben, werden in der vorliegenden Arbeit drei Optionen vorgestellt: die individuelle Option, die technologische Option und die Option der Nachhaltigkeit. Die individuelle Option hält fest an den spezifischen sozialen Werten (Respekt, Solidarität, Fairness, Verantwortung und Gegenseitigkeit), d.h. den zur Förderung einer lokalen Kreislaufwirtschaft für bestimmte recyclingfähige Haushaltsabfälle (z.B. Aluminiumdosen und Flaschen aus Polyethylenterephthalat) geschaffenen Nischen. Die durch die Einführung der mechanisch-biologischen Abfallbehandlung gekennzeichnete technologische Option lenkt die Aufmerksamkeit auf die Reduzierung der Deponien und die Minimierung der sozialen Hindernisse, die eine als bahnbrechend für die Abfallwirtschaft geltenden Technologie zu bewältigen hat. Die Nachhaltigkeitsoption berücksichtigt die Vorstellungen der Akteure, u.a. hinsichtlich des sozioökonomischen Nutzens der Verringerung der Armut in der Stadt, der Verbesserung der Materialrückgewinnung und der Bewusstmachung durch direkten Kontakt zur Unterstützung von Änderungen im Sozialverhalten.
Belo Horizonte kann für andere Städte historisch gesehen als beispielhaft in Bezug auf die Kooperativität der Müllsammler betrachtet werden. Der transformative Ansatz beschreibt jedoch die Praxis und nicht die Vollendung des Fortschritts. Die mit Belo Horizonte gemachten Erfahrungen lassen die Müllsammler als Symbol der Bedeutung intragenerationeller Gerechtigkeit erscheinen. Die Müllsammler haben ihre eigenen, an das städtische System angepassten oder nicht angepassten Prinzipien. Im Sinne des Entwickelns von Regeln für eine funktionierende Abfallwirtschaft stellen sie innerhalb der globalen Problematik ein Gefühl des Zusammenhalts und der Einigkeit her. Derartige globalisierte und standardisierte Maßnahmen nehmen der Gesellschaft die Möglichkeit, ein produktives System auf Grundlage ihres Potenzials und ihrer Fähigkeiten zu schaffen. Diese Arbeit vermittelt ein problemorientiertes und theoretisches Verständnis soziotechnischer Ansätze im Hinblick auf Nachhaltigkeitsfragen und legt den Fokus dabei auf bisher nicht berücksichtigte lokale Probleme.
Abstract (englisch):
The global speed of increasing household solid waste (HSW) requires new system thinking and new methods of knowledge production to assist agents involved locally (e.g., waste producers, decision-makers and NGOs), especially concerning sustainability issues in emerging economies. In emerging economies, a critical aspect is to reconcile local knowledge, social values, and preferences with a systematic understanding of worldwide technological development for HSW management in an urban situation often characterised by rapid economic growth and extreme social inequalities. This thesis addresses these complex real-life situations faced by several cities that are often neglected in transformative approaches. ... mehrThe Brazilian city of Belo Horizonte became a learning platform for collecting, presenting, and analysing data in a robust matter.
Belo Horizonte is one of Brazil’s economic axes that ends-up with about 98% of the total HSW generated in landfill sites without any prior treatment. The remaining fraction corresponds to waste sorted by citizens from impoverished communities, i.e., waste pickers. Belo Horizonte HSW management is seen as stagnated by many decision-makers, investors, and recycling companies, although the city is a reliable reference for a social model based on the organisational structure of waste pickers into cooperatives worldwide. The case of Belo Horizonte is used as a strategy to answer three problem-oriented research questions aimed at this thesis:
I. What are the options to improve household solid waste management in Belo Horizonte?
II. Is Belo Horizonte’s social model the best path example to improve household solid waste management in the Global South?
III. Why do we want to integrate waste pickers in household solid waste management in an age of accelerating and interconnected technological change?
The three research questions guide this thesis's approach to enable agents and academics to understand the nuances that require HSW management in a way to deal with waste pickers as part of a societal transition in emerging economies. For that, the tripartite transdisciplinary framework (TTF) was developed as a scientific instrument to broaden the methodological knowledge obtained through four publications developed along with the thesis. As its own name says, the TTF's structural approach is part of merged concepts taken from social sciences and transdisciplinary research in sustainability science, such as the ideal-typical transdisciplinary research process, value-sensitive design, and historical analogies. The TTF helped to extract the knowledge of the transdisciplinary research that was conducted by indicating problems, the relationships between agents, and three possible major effects that reflect on the socio-technical future of HSW management in Belo Horizonte (research question I). The TTF also contributed the structure that was necessary to understand the resilience to answer research question II and transboundary thinking to answer research question III.
This thesis presents three options for driving the socio-technical future of HSW management in Belo Horizonte: individual, technological, and sustainability. The individual option adheres to the specific social values (respect, solidarity, fairness, responsibility and reciprocity) that are niches created to promote a local-oriented circular economy for specific recyclable HSW (e.g., aluminum cans and polyethylene terephthalate bottles). The technological development through the implementation of mechanical biological treatment draws attention to the minimisation of waste landfill and social obstacles that must be faced for a technology that is considered to be a decisive game-changer for HSW management. The sustainability option considers the envisioned view of agents regarding (among other issues) social-economic benefits to reduce poverty in the city, enhancing the recovery of materials, and the dissemination of awareness by direct contact to assist changes in social behaviour.
Although Belo Horizonte can be considered an example of cooperativism of waste pickers for other cities because of historical commitments, the transformative model designed the practice of progress, not its perfection. Belo Horizonte’s lessons learned show that waste pickers symbolise the importance of intragenerational justice. Waste pickers have their own principles that are adapted or not adapted to the urban system. They create a sense of unity within the globalised issue to develop standards for a functioning HSW system. Such globalized and standardised measures deny society the option of creating a productive system based on their capabilities. This study’s significance lies in the fact that it informs a problem-oriented and theoretical understanding of socio-technical approaches towards sustainability issues by introducing a focus on local problems that have hitherto been lacking.