Abstract:
Die Nanowissenschaften sind ein multi- und interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich in den vergangenen Jahrzehnten stark entwickelt hat und erheblich durch den Einsatz von Computersimulationen geprägt ist. Die Welt der Nanowissenschaften wirft einige Herausforderungen auf und hält zahlreiche Überraschungen bereit. So zeigt Materie auf der Nanoskala oft ungewöhnliche und interessante Eigenschaften -- und in der Regel lassen sich Ansätze zur Beschreibung von Systemen auf Skalen der Alltagswelt nicht so einfach auf den nanoskaligen Bereich übertragen.
Sowohl in Anbetracht ihrer Phänomene als auch in Bezug auf die zu ihrer Untersuchung verwendeten Werkzeuge geben die Nanowissenschaften daher zu Fragen Anlass, die nicht nur von wissenschaftlichem, sondern auch von philosophischem Interesse sind. ... mehrInsbesondere stellt sich die Frage, was und auf welche Art und Weise eigentlich in den Nanowissenschaften erklärt wird -- und welche Rolle Computersimulationen dabei spielen.
Die vorliegende Arbeit nähert sich der Praxis der Nanowissenschaften aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive und verfolgt dabei zwei übergeordnete Anliegen. Das primäre Ziel der Arbeit ist es, am Beispiel der Nanowissenschaften zu einer philosophischen Klärung der Rolle von Computersimulationen in Erklärungszusammenhängen beizutragen und dabei auch auf mögliche Vorbehalte hinsichtlich ihrer Eignung für das Ziel wissenschaftlicher Erklärungen zu reagieren. Neben einer Diskussion der Frage, ob und inwiefern die vielfach attestierte epistemische Opazität von Computersimulationen ihrem Einsatz zu Erklärungszwecken entgegensteht, widmet sich die Arbeit den konkreten Beiträgen, die Simulationen zu Erklärungen leisten können.
Das sekundäre Anliegen der Arbeit ist es, eine philosophische Perspektive auf Computersimulationen in den Nanowissenschaften vorzustellen, die ihren Ausgangspunkt in einer nahen Beschäftigung mit tatsächlicher Simulations- und Erklärpraxis findet. Auf diese Weise soll zu einem nuancierten Verständnis der Rolle von Computersimulationen und den in ihnen zum Einsatz kommenden Modellen beigetragen werden und Anknüpfungsmöglichkeiten für aktuelle Diskussionen gegeben werden, welche etwa Herausforderungen beim Erklären komplexer Phänomene oder das Verhältnis zwischen verschiedenen Beschreibungsebenen in Multiskalenkontexten betreffen.
Die philosophischen Studien dieser Arbeit sind dabei in großen Teilen an zwei Fallstudien orientiert, die jeweils unterschiedlichen für nanowissenschaftliche Forschung relevanten Wissenschaftszweigen entstammen; der Molekularbiologie einerseits und der physikalischen Chemie andererseits.
Auch wenn sich in der gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie ein Trend abzeichnet, philosophische Studien nah an tatsächlicher Wissenschaftspraxis zu orientieren, so wirft der philosophische Rekurs auf Fallstudien doch einige Herausforderungen auf, die etwa das Risiko von Übergeneralisierungen und Verzerrungen betreffen. Nach einer Einleitung wird daher im zweiten Kapitel der Arbeit erörtert, auf welche Art und Weise Fallstudien eine berechtigte Rolle in philosophischen Untersuchungen spielen können. Es wird vorgeschlagen, Fallstudien weniger als partikulare Ressourcen für induktive Verallgemeinerungen zu betrachten, sondern sie vielmehr als mögliche Ausgangspunkte zur Abstraktion zu verstehen. Mit diesem Alternativvorschlag verschieben sich allerdings auch die Fragen, zu deren Beantwortung der Rekurs auf Fallstudien dienlich erscheint. Statt der Suche nach einer übergeordneten Theorie wissenschaftlicher Erklärungen rückt etwa die Frage nach den Charakteristiken und Mustern unterschiedlicher Erklärungspraktiken in den Fokus.
Anschließend setzt sich das dritte Kapitel der Arbeit mit der vielfach attestierten Opazität von Computersimulationen auseinander. In philosophischen Diskussionen wurden Bedenken dahingehend geäußert, ob und wie Computersimulationen angesichts ihrer Opazität dazu geeignet sind, wissenschaftliche Erklärungen zu ermöglichen oder Verstehen zu befördern. Anhand eines Fallbeispiels, welches die biologische Funktion bestimmter Kanalproteine an den Membranen biologischer Zellen betrifft, diskutiert das Kapitel, ob die attestierte Opazität von Computersimulationen ihrem Einsatz zu Erklärungszwecken entgegensteht. Es wird aufgezeigt, dass Computersimulationen eine Schlüsselrolle für Erklärungen spielen können; und am Beispiel der Kanalproteine an Zellmembranen wird illustriert, wie sie ein effektives Instrument darstellen können, um mit der Komplexität molekularer Systeme umzugehen.
Im vierten Kapitel der Arbeit werden die verschiedenen Hinsichten, in denen Computersimulationen zu Erklärungen beitragen können, genauer in den Blick genommen. Ausgangspunkt bietet eine Fallstudie aus der physikalischen Chemie, welche das überraschende Vorkommen bestimmter Ionen an der Oberfläche von Wassertropfen in atmosphärischen Aerosolen betrifft. Es werden drei zentrale Hinsichten herausgestellt, in denen Computersimulationen zu wissenschaftlichen Erklärungen beitragen können. Erstens können Computersimulationen dazu dienen, kontrollierte und anderenfalls oft nicht durchführbare Manipulationen an komplexen Systemen vorzunehmen. Dies erlaubt es, gezielt zu überprüfen, welche Faktoren in Bezug auf das jeweils zu erklärende Phänomen einen Unterschied machen. Zweitens können Computersimulationen dabei helfen, systematisch von (atomistischen) Details zu abstrahieren und epistemischen Zugriff auf diejenigen Variablen zu erlangen, welche für Erklärungen besonders relevant sein können, da sie der Stabilität von Strukturen oder der Erwartbarkeit bestimmter molekularer Prozesse Rechnung tragen. Drittens können Computersimulationen eine Rolle für Erklärungen spielen, indem sie dabei helfen, für das Verhalten komplexer Systeme potentiell relevante Faktoren quantitativ besser zu beschreiben und damit ein detaillierteres Bild von der Gewichtung verschiedener Einflussfaktoren zu erhalten.
Zum Abschluss richtet das fünfte Kapitel der Arbeit ausblickend den Fokus auf gegenwärtige Diskussionen zu Multiskalensimulationen. Vielfach werden in den Nanowissenschaften Simulationen eingesetzt, bei denen Beschreibungen auf verschiedenen Zeit- oder Längenskalen miteinander verbunden werden. In der jüngeren Vergangenheit wurde die Entwicklung und der erfolgreiche Einsatz von Multiskalensimulationen in den Wissenschaften -- besonders in den Nanowissenschaften -- zum Anlass in der Wissenschaftsphilosophie genommen, um Zweifel an der Angemessenheit traditioneller Ansätze zur Charakterisierung des Verhältnisses verschiedener Beschreibungsebenen zueinander anzumelden. Diese Diskussionen aufgreifend untersucht das Kapitel die Zusammenarbeit verschiedener Theorien und Modelle in Multiskalensimulationen. Auf einen vieldiskutierten Vorschlag bezugnehmend, demzufolge Modelle als teilweise autonome Vermittlungsinstanzen zwischen Theorien und der Welt zu verstehen sind, unterstreicht das Kapitel, inwiefern die Verbindung verschiedener Teilmodelle in Multiskalensimulationen das Ergebnis einer Reihe von Modellierungsschritte und -entscheidungen ist, die mehr als nur Theoriewissen erfordern.
Abstract (englisch):
The nanosciences are a multi- and interdisciplinary field of research that has grown rapidly over the last decades and that is significantly shaped by the use of computer simulations. The nanoscale presents many interesting scientific challenges and holds various surprises. Matter at the nanoscale often shows unusual and unexpected properties, and approaches to describing phenomena at macroscopic scales are often not straightforwardly applicable to phenomena at the nanoscale.
Against this backdrop, the nanosciences raise a number of questions that are not only of scientific but also of philosophical interest. ... mehrSpecifically, there is the question of how explanations are given in the nanosciences -- and what role computer simulations play in these explanations.
This dissertation addresses research practices in the nanosciences from a philosophical perspective. There are two overarching research aims. The first aim is to contribute to a philosophical clarification of the role of computer simulations in explanatory contexts and to respond to possible concerns regarding their explanatory power. In particular, I zoom in on the concrete contributions that computer simulations can make to explanations.
The second aim is to offer a philosophical perspective on computer simulations in the nanosciences that draws inspiration from an inspection of actual explanatory practice and simulation practice. In this way, I seek to contribute to a nuanced understanding of the role of computer simulations and models in scientific practice, and offer connecting points for further discussions concerning challenges in explaining complex phenomena or the relationship between different levels of description in multiscale simulation contexts.
The philosophical studies in this dissertation are largely centered around two case studies from distinct branches of science relevant for nanoscientific research: molecular biology and physical chemistry. Even though the philosophy of science has recently experienced a trend of `practice-orientation', philosophers' use of case studies introduces a number of challenges. These challenges include the risk of overgeneralization and bias. After an introduction, the second chapter of the dissertation therefore discusses how case studies can play a valid role in philosophical inquiries of scientific practice. Rather than regarding case studies primarily as resources for inductive generalizations, it is suggested to consider them as potential starting points for abstractions. This alternative approach, however, has an effect on the kinds of questions that case studies can help address. Instead of searching for an `overarching' theory of scientific explanation, the focus shifts towards the characteristics of explanatory practices and the patterns present in them.
The third chapter starts with the often-attested epistemic opacity of computer simulations. In philosophical discussions, concerns have been raised regarding whether and how computer simulations, considering their opacity, are suitable means for obtaining scientific explanations or achieving understanding. Drawing on a case study that concerns the biological function of certain channel proteins in the membranes of biological cells, it is discussed whether the supposed opacity of computer simulations is at odds with their explanatory power. It is proposed that computer simulations can play a key role in explanations, and the example of channel proteins in cell membranes illustrates how they can effectively help scientists handle the complexity of molecular systems.
Building on that, the fourth chapter of the dissertation is concerned with the concrete contributions that computer simulations can make to scientific explanations. The starting point is a case study from physical chemistry, which is about the surprising occurrence of certain ions near the surface of water droplets in atmospheric aerosols. Three key contributions that computer simulations can make to scientific explanations are outlined. First, computer simulations allow scientists to perform controlled manipulations that might otherwise be difficult or even impossible to conduct. In this sense, they enable targeted manipulations of factors which potentially make a difference for the respective phenomenon under consideration. Second, computer simulations can help with a systematic abstraction from (atomistic) details, providing epistemic access to variables that code for the stability of structures or the expectedness of certain molecular processes.
Third, computer simulations can play a crucial role in explanations by capturing the effects of particular factors in quantitative terms, thereby contributing to a better assessment of their relative importance for the explanandum.
In the fifth chapter, I zoom in on current philosophical discussions about multiscale simulations. In the nanosciences, simulations are frequently used to examine systems that span various time or length scales. Recently, the development and successful use of multiscale simulations in the sciences -- particularly in the nanosciences -- have prompted discussions in the philosophy of science, casting doubt on traditional approaches to describing the relationships between different levels of description. Addressing these discussions, I draw on an widely-discussed idea according to which scientific models are partially autonomous mediators between theories and the world. I suggest that the successful combination of different sub-models in multiscale simulation contexts is the result of various modeling steps and decisions and requires more than knowledge of the respectively involved scientific theories.