Einleitung
Die Beobachtung und Evaluation von Veränderungen und Trends in der Wahlkampfkommunikation gehören zu den zentralen Fragen der politischen Kommunikationsforschung (Reinemann 2008). Entsprechend regelmäßig werden Annahmen langfristiger (linearer) Trends in der Wahlkampfkommunikation getroffen, vielfach durch das Suffix „-ierung“ gekennzeichnet, das eine temporale Entwicklung impliziert (Krewel & Wolsing 2023; Schäfer & Schmidt 2016). Der Fokus unseres Beitrags soll auf Trends in der medialen Wahlkampfberichterstattung liegen. Zu den verbreitetsten Trendannahmen in diesem Kontext zählt die der sog. „Amerikanisierungs-“ bzw. „Modernisierungsthese“ (u.a. Brettschneider 2013; Donges 2000; Krewel & Wolsing 2024; Sarcinelli 2011), die etwa davon ausgeht, dass die Wahlkampfberichterstattung durch eine wachsende 1) „Personalisierung“ und 2) „Visualisierung“ gekennzeichnet sei sowie zunehmend 3) „negativ“ und auf 4) den Wettbewerbscharakter („Horse Race“) fokussiere. Zudem würden die Wahlkampagnen und damit der Berichterstattungszeitraum 5) zeitlich ausgeweitet („permanent campaigning“) (u.a. Magin 2021; Krewel & Wolsing 2023; Schäfer & Schmidt 2016; Schulz 2011).
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Methodisches Vorgehen und Forschungsfragen
Um derartige Trends in der Wahlkampfberichterstattung empirisch prüfen zu können, bedarf es longitudinal angelegter Medieninhaltsanalysen, die idealerweise mit demselben methodischen Design unter gleichbleibender Operationalisierung der relevanten Konstrukte die Wahlkampfberichterstattung mehrerer Wahlen vergleichend analysieren. Aufgrund der hohen methodischen Anforderungen mangelt es an solchen Studien jedoch (Reinemann 2008). Bei den meisten empirischen Wahlkampfanalysen handelt es sich um sog. „single case studies“, die jeweils eine einzige Wahl in den Blick nehmen (Krewel & Wolsing 2023; Strömbäck & Kaid 2008). Um die damit einhergehenden Einschränkungen zu überwinden, stellen die Basis unserer Studie Daten einer Langzeitinhaltsanalyse dar, die einen Zeitraum von 72 Jahren und 20 Bundestagswahlen abdeckt. Inhaltsanalytisch erfasst wurde die Berichterstattung vier deutscher, überregionaler Tageszeitungen (Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt ) über die Bundestagswahlkämpfe von 1949 bis 2021. Insgesamt analysiert wurden 7.371 Artikel, die die Bundestagswahlen und/oder die Kanzlerkandidat:innen thematisieren und in den vier Wochen vor dem jeweiligen Wahltag („heiße Wahlkampfphase“ (Schulz 2015)) erschienen sind, und zwar immer mit demselben Messinstrument, das vor jeder Wahl lediglich minimal angepasst wurde (etwa: Aktualisierung der Kanzlerkandidat:innen oder Ergänzung von Parteien und Wahlkampfthemen), ohne bestehende Operationalisierungen grundlegend zu ändern. Diese Untersuchungsanlage kann als einzigartig in der deutschen politischen Kommunikationsforschung bezeichnet werden und ermöglicht es, die o.g. angenommenen Trends der Wahlkampfberichterstattung empirisch zu prüfen. Ausgehend von dieser Datenlage analysieren wir, ob in der Wahlkampfberichterstattung deutscher Tageszeitungen ein Trend…
FF1. …zur Personalisierung (im Sinne einer eines häufigeren Bezugs zu Kanzlerkandidat:innen),
FF2. …zur Visualisierung (im Sinne einer Zunahme an Kandidat:innenbildern),
FF3. …zu mehr Negativität (im Sinne einer zunehmend negativen Bewertung der Kandidat:innen),
FF4. …zu mehr Horse-Race-Berichterstattung (im Sinne einer Zunahme der Veröffentlichung von Umfrageergebnissen),
FF5. …zu einer ausgedehnteren Wahlkampfberichterstattungsphase
festzustellen ist.
Ergebnisse und daran angeschlossene Diskussion
Die longitudinalen Daten zeigen, dass langfristige (lineare) Trends innerhalb der Wahlkampfberichterstattung der von uns analysierten Tageszeitungen kaum zu finden sind. Bezüglich des Aspekts der Personalisierung (FF1) weist die Wahlkampfberichterstattung deutscher Tageszeitungen seit jeher (mit der Ausnahme des Wahlkampfs von 1949) einen hohen Anteil an Bezügen zu den Kanzlerkandidat:innen auf. Seit über vier Jahrzehnten erwähnen knapp zwei Drittel bis drei Viertel der Beiträge über die Bundestagswahlkämpfe eine:n oder mehrere Kanzlerkandidat:innen.
Hinsichtlich des Trends zur Visualisierung (FF2) war zwischen 2002 und 2009 ein kurzfristiger Trend zu mehr Kandidat:innenbildern pro Wahlkampfartikel festzustellen, der allerdings seitdem wieder rückläufig ist bzw. stark schwankt, so dass ein klarer Trend nicht beobachtet werden kann.
Ein Trend zu einer zunehmend negativen Bewertung der Kanzlerkandidat:innen (FF3) zeigt sich in unseren Daten ebenfalls nicht. Die Bewertung der Kandidat:innen in der Tagespresse fällt im Zeitverlauf konstant überwiegend kritisch (negative Saldi) und im negativen Bereich schwankend aus.
Auch der Anteil, den Umfrageergebnisse als Thema der Wahlkampfberichterstattung einnehmen (FF4), schwankt seit 1949 auf einem Niveau zwischen null und maximal vier Prozent. Insofern kann nicht von einer zunehmenden Fokussierung auf den Wettbewerbscharakter von Wahlkämpfen gesprochen werden.
Schließlich sind die Anteile der Wahlkampfartikel, die in der vierten Woche vor der Wahl veröffentlicht wurden (FF5), im Zeitverlauf schwankend und haben sich insgesamt nicht wesentlich erhöht, sodass nicht von einem Trend zu einer ausgedehnteren Wahlkampfberichterstattungsphase gesprochen werden kann. Der Großteil der Wahlkampfberichterstattung findet i.d.R. in den beiden Wochen vor der Wahl statt.
Die Ergebnisse unserer Langzeitanalyse liefern insofern keinen empirischen Beleg für die Trends Personalisierung, Visualisierung, Negativität, Horse-Race-Journalism oder einer ausgedehnteren Wahlkampfberichterstattungsphase. Sie werfen damit – in Übereinstimmung mit Befunden weiterer empirischer Analysen (u.a. Krewel & Wolsing 2023 oder Schäfer & Schmidt 2016) – Zweifel an der weit verbreiteten Annahme langfristiger Trends in der Wahlkampfberichterstattung auf und unterstreichen die Notwendigkeit einer kontextabhängigen, empirischen Validierung solcher Hypothesen. Im Vortrag möchten wir daher folgende übergeordnete Überlegungen weiterführend diskutieren:
1) Theoretische Konzeptionalisierung
Wir fragen, ob Forschende und/oder Praktiker:innen zu voreilig anhand prominenter Fallbeispiele oder singulärer Wahrnehmungen auf (lineare) Trends schließen, ohne diese einer empirischen Prüfung zu unterziehen. Darüber hinaus: Ab wann kann sinnvoll von einem (langfristigen) Trend gesprochen werden (wie viele aufeinanderfolgende Beobachtungen sind nötig)? Und wird bei der Formulierung von Trends trennscharf zwischen der Wahlkampfkommunikation politischer Akteur:innen und der Medienberichterstattung differenziert?
2) Methodische Herausforderungen
Ein methodisches Problem für den empirischen Nachweis von Trends ist der erwähnte Mangel an Längsschnittstudien. Dass wir innerhalb unserer eigenen Langzeitinhaltsanalyse keine langfristigen Trends nachweisen konnten, kann wiederum an der von uns gewählten Operationalisierung der Konstrukte liegen. Auch die Auswahl der analysierten Medien erscheint relevant – womöglich sieht das Bild in der Fernsehberichterstattung oder in Boulevardmedien anders aus.
3) Relevanz von Kontextfaktoren
Bedeutsam erscheint uns zudem, die Rolle von Kontextfaktoren der jeweiligen Wahlkämpfe ernst zu nehmen. Die Kandidat:innenkonstellation oder die Ausgangslage der Parteien scheinen einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung der Wahlkampfberichterstattung zu haben, und sollten bei Analysen mitgedacht werden.
Literaturverzeichnis
Brettschneider, F. (2013). Amerikanisierung. In: Bentele, G., Brosius, H.-B., & Jarren, O. (Hrsg.), Lexikon Kommunikations- und Medienwissenschaft (2., überarbeitete und erweiterte Auflage) (S. 17–18). Wiesbaden: Springer VS.
Donges, P. (2000). Amerikanisierung, Professionalisierung, Modernisierung?. In: Kamps, K. (Hrsg.), Trans-Atlantik — Trans-Portabel? (S. 27-40). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Krewel, M., & Wolsing, A. (2023). „The Times They are A-changin“, lineare Trends oder Muster in der Fernsehberichterstattung über KanzlerkandidatInnen. In: Faas, T., Huber, S., Krewel, M., & Roßteutscher, S. (Hrsg.), Informationsflüsse, Wahlen und Demokratie. Festschrift für Rüdiger Schmitt-Beck (S. 53-84). Baden-Baden: Nomos.
Magin, M. (2012). Wahlkampf in Deutschland und Österreich. Ein Langzeitvergleich der Presseberichterstattung (1949–2006). Köln: Böhlau Verlag.
Magin, M. (2021). Wahlberichterstattung. In: Prinzing, M., & Blum, R. (Hrsg.), Handbuch Politischer Journalismus (S. 211-218). Köln: Halem.
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Sarcinelli, U. (2011). Politische Kommunikation in Deutschland. Medien und Politikvermittlung im demokratischen System. 3., erweiterte und überarbeitete Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Scheufele, B., & Engelmann, I. (2013). Die publizistische Vermittlung von Wertehorizonten der Parteien. Normatives Modell und empirische Befunde zum Value-Framing und News Bias der Qualitäts- und Boulevardpresse bei vier Bundestagswahlen. Medien & Kommunikationswissenschaft, 61, 532–550.
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Schulz, W. (2011). Politische Kommunikation. Theoretische Ansätze und Ergebnisse empirischer Forschung. Wiesbaden: Springer VS.
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