Katastrophen, Behinderung und Gerechtigkeit - Wertbezogene Spannungsfelder eines angemessene(re)n Umgangs mit körperlicher, intellektueller, psychischer und sinnesbezogener Vielfalt im Katastrophenmanagement

Katastrophen bedrohen das Leben aller Menschen, jedoch nicht in gleicher Weise. Dies gilt insbesondere für Menschen mit Behinderungen. Angaben der Vereinten Nationen zufolge sehen sie sich im Vergleich zu Menschen ohne Behinderungen im Kontext von Katastrophen einem bis zu viermal höheren Risiko gegenüber verletzt zu werden oder zu sterben. Dieses besondere Risiko zeigt sich in einer Vielzahl und Vielfalt unterschiedlicher Herausforderungen, denen Menschen mit Behinderungen, zusätzlich zu den (un-)normalen Folgen von Katastrophen, gegenüberstehen. Wenngleich dieser Umstand nicht ungesehen ist und es in den letzten Jahrzehnten durchaus positive Entwicklungen gibt, steht eine umfassende Adressierung dieser Situation bisher aus. ... mehrAn dieser Stelle setzt diese Arbeit an. Basierend auf der im Sendai Framework for Disaster Risk Reduction der Vereinten Nationen formulierten Forderung zur Integration einer behinderungssensiblen Perspektive im Katastrophenmanagement wird argumentiert, dass es für eine Verbesserung der aktuellen Situation einer stärkeren Berücksichtigung geistes- und sozialwissenschaftlicher Perspektiven und der kritischen Betrachtung genutzter Menschenbilder, Normalitätsvorstellungen und Narrative bedarf. Damit verbunden wird die These formuliert, dass aktuelle Probleme auch darin begründet liegen, dass das Ziel einer angemessene(re)n Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen im Katastrophenmanagement in vielfacher Weise spezifizierungs- und aushandlungsbedürftig ist: Unterstützungsbedarfe von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungsformen können sich widersprechen, Sicherheit und Teilhabe können in Konkurrenz stehen und die Beschreibung der Bedarfe von Menschen mit Behinderungen als besonders, hat sowohl positive als auch negative Implikationen. Vor diesem Hintergrund widmet sich die Arbeit folgender Forschungsfrage: Welchen (wertbezogenen) Spannungsfeldern sieht sich eine angemessene(re) Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen im Katastrophenmanagement gegenüber und welche Ansatzpunkte lassen sich für ihre Bearbeitung identifizieren? Diese Frage wird im Rahmen der Arbeit in dreifacher Hinsicht bearbeitet. Zunächst werden Verantwortungsspielräume untersucht, die sich entlang unterschiedlicher Konzeptualisierungen von Behinderung, Inklusion und Katastrophen(‑management) ergeben. Je nachdem, was etwa unter Behinderungen oder Katastrophen verstanden wird, werden andere Phänomene sichtbar und beeinflussbar. Des Weiteren wird darauf eingegangen, dass eine angemessene(re) Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen im Katastrophenmanagement davon abhängt, welche Sicherheit ganz allgemein gesellschaftlich als notwendig, möglich und vertretbar verstanden wird beziehungsweise, wer für Sicherheitshandeln zuständig ist. Davon abhängig ergeben sich unterschiedliche Handlungsspielräume. Schließlich wird auf Verteilungsspielräume eingegangen und untersucht, wie die Art und Weise einer Thematisierung der Unterstützungsbedarfe von Menschen mit Behinderungen als normal oder besonders Einfluss auf die Frage einer (gerechten) Verteilung von Ressourcen haben kann. Die Arbeit hat drei Ergebnisse: Erstens werden die bisher weitgehend unverbundenen theoretischen Arbeiten der Katastrophenforschung, der Disability Studies und der Angewandten Ethik zusammenführt. Im Sinne eines Verständnisses von Ethik als honest broker, welcher wohlinformierte Entscheidungen ermöglicht, ohne diese vorwegzunehmen, werden zweitens zehn Aspekte einer angemessene(re)n Berücksichtigung von Menschen mit Behinderungen im Katastrophenmanagement identifiziert und im Rahmen von Wenn‑Dann‑Argumenten ausgearbeitet. Drittens werden darauf basierend zehn Thesen formuliert, die konkrete Ansatzpunkte für eine Verbesserung der aktuellen Situation beschreiben. Alle drei Ergebnisse sollen nicht nur dabei helfen, dass Thema eines angemessene(re)n Umgangs mit körperlicher, intellektueller, psychischer und sinnesbezogener Vielfalt im Katastrophenmanagement auf die wissenschaftliche und politische Agenda zu setzen. Sie liefern mehr noch eine Grundlage, um die damit verbundenen komplexen Debatten und Aushandlungen theoretisch fundiert und transparent führen zu können.

Disasters threaten the lives of all people, but not in the same way. This is especially true for people with disabilities. According to the United Nations, they are up to four times more likely to be injured or killed in disasters than people without disabilities. Although this situation is not unrecognized and there have been some positive developments in recent decades, it has not yet been comprehensively addressed. This thesis argues that this to some degree is rooted in the fact that the goal of adequate(r) consideration of persons with disabilities in disaster management requires specification and a discussion about tensions that exist within the claim for reasonable accommodation in disaster management. ... mehrAgainst this backdrop, based on three questions ten definitory spaces are outlined: (a) What can be influenced?, (b) What should be achieved?, (c) How can we act? The first question describes different options for attributing responsibilities depending on which conceptualization of disability, inclusion, and disaster (management) is chosen. The second question scrutinizes different aims regarding the (level) of security in society. The third question relates to definitory spaces regarding a just distribution of scarce resources. This work brings together previously largely unconnected works of disaster research, disability studies, and applied ethics in order to create a basis for so far neglected debates about the contents and aims of reasonable accommodation for persons with disabilities in disaster management.