Karl Steinbuchs 'Man or Automation in Space' als hybrides System?
In den 1950er Jahren richtete sich die Hoffnung der Menschheit auf die unendlichen Weiten des Weltraums – oder zumindest darauf, die Grenzen der Erdatmosphäre zu überschreiten. Neben allem utopischen Potential für neue – diesmal universelle und globale – Menschheitserzählungen stellten sich komplexe technische Fragen, die nicht nur Energieträger- oder Materialforschung herausforderten, sondern auch die Steuerungstechnik: Können wir Menschen ins Weltall reisen? Und wenn ja, können wir als Reisende diese Reise selbst steuern? Oder wäre es besser, Maschinen die Steuerung zu überlassen – oder gleich Automaten zu senden? Dies waren Fragen, die auch an die und in der Nachrichtentechnik gestellt wurden, in deren Arbeitsfeld damals die Steuerungskunde als „Kybernetik“ (in ihren nicht-biologischen Teilen) fiel. Ein Apparat, der „ins All geschossen“ werden sollte, musste ja gesteuert werden. Und alle Typen der Steuerung hatten jeweils Vorteile, die es zu nutzen, und Nachteile, die es zu vermeiden galt. In Frage kam die direkte menschliche Steuerung durch Weltraumpiloten, die allerdings unter Extrembedingungen (an und über der Grenze der Belastungsfähigkeit) leiden würden. ... mehrOder eine „Bodenstation“ müsste das Weltraumfahrzeug fernsteuern, wobei aber alle Probleme der Signalübermittlung – ebenfalls unter Extrembedingungen – zu klären wären. Es könnte aber auch ein Automat als „Blindflugsteuerung“ in das Weltraumfluggerät eingebaut werden, und könnte sich unter Umständen mit interagierenden Menschen abwechseln. Oder aber man verzichtet auf menschlichen Weltraumflug, und entsendet Flugautomaten mit automatischen Sonden, die wiederum von der Bodenstation fremdgesteuert oder aber selbstlenkend konstruiert werden könnten. Jenseits jeden Wettbewerbs um Forschungsmittel ging es also um grundlegende technische Herausforderungen, um echte „Grundlagenforschung“. Zu dieser gehörte es auch (a) Modell-Szenarien zu entwickeln, in denen dann (b) Menschen-Modelle und (c) Maschinen-Modelle agieren und ihre – real gemessenen wie prognostisch erwarteten – Leistungen verglichen werden sollten.
So ist es nicht verwunderlich, dass auch Karl Steinbuch, seit 1958 ordentlicher Professor für Nachrichtenverarbeitung und Nachrichtenübertragung an der
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Technischen Hochschule Karlsruhe (einer der beiden Vorgängerinstitutionen des KIT), sich mit diesem Problem befasst hat. Die zweite Auflage seines Klassikers „Automat und Mensch“ enthält 1963 ein umfangreiches Kapitel zur Problemstellung „Automat und Mensch im Weltraum“, das auch eine Wende zur Erweiterung seiner Fragestellungen und Sachfelder markiert – trug die erste Auflage 1961 noch den Untertitel „Mechanische Intelligenz“, wurde dieser nun durch „Kybernetische Tatsachen und Hypothesen“ ersetzt, und damit der Geltungsanspruch von Steinbuchs Erkenntnissen erweitert. Diese Überlegungen zur Raumfahrt trug Steinbuch auch in öffentlichen oder geschlossenen Vorträgen vor, von denen ein Manuskript in seinem Nachlass im KIT-Archiv vorliegt. Im ersten Teil dieses Vortrags werden Steinbuchs Überlegungen zum Wechselspiel von Menschen und Automaten unter ultimativen Extrembedingungen anhand von Buchkapitel und Vortrag nachgezeichnet, wobei eine Eigenart von Steinbuchs Arbeitsweise betont wird: Die zentrale Stellung seiner Zeichnungen und Diagramme, deren Funktion sich nicht in der Illustration seiner Texte erschöpft.
Ausgehend von dieser „Technikzukunft“ als Fallbeispiel soll im zweiten Teil des Vortrages der Begriff des „Hybrids“ untersucht werden, der als Konzept postmoderner Wissenschaftsforschung auch im Post-Humanismus zu einer forschungsleitenden Idee geworden ist. Diese Untersuchung ist auch deshalb von Interesse, da ein „Hybrid“ auch immer den Schritt von der „zentralen“ Position des Menschen hin zu einer „dezentrierten“ Sichtweise markiert. Gleichzeitig ist zurzeit gar nicht klar gefasst, was ein „Hybrid“ eigentlich sein soll – so gibt es zwar einschlägige Vorschläge, aber weder Einigkeit über die Wortverwendung noch eine gemeinsame Grundlage in Form eines belastbaren Handbuchartikels. Anhand der Überlegungen von Bruno Latour zur Akteur-Netzwerk-Theorie und Donna Haraways zum Cyborg sollen in diesem zweiten Teil (erste) Bausteine für dieses Desiderat geliefert werden. Die Untersuchung kann auch zu einem brisanten Ergebnis führen: Wird nicht klar, inwiefern Menschen und ihre Automaten verschmelzen können, muss unklar bleiben, inwieweit der Begriff des „Hybrids“ epistemisch „hält“ – oder ob mit ihm nicht auch das programmatische Konzept der „Dezentrierung“ zerfallen muss. Es sei denn, man wäre bereit, unter einem „Hybrid“ nicht viel mehr zu verstehen, als einen Menschen, der Werkzeuge verwendet – zum Beispiel einen Bleistift, ein Radiergummi und ein Blatt Papier. Dann allerdings wäre gegen einen
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demythifizierten „Hybrid“-Begriff wenig einzuwenden – und wir hätten es nicht mehr mit „Monstren“ zu tun, die eine eigene „agency“ beanspruchen (sollen), sondern mit Menschen, die in einer komplexen Welt mit immer besseren und cleveren Werkzeugen ihrer Arbeit nachgehen.
Literatur
Haraway, Donna Jeanne (1985), “Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s”, in: Socialist Review 80, 65–108. (Nachdruck in 1991: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York.)
Latour, Bruno/Akrich, Madeleine (1992), „A Summary of a Convenient Vocabulary for the Semiotics of Human and Nonhuman Assemblies“, in: Bijker, Wiebe E./Law, John (Hgg.): Shaping Technology / Building Society. Studies in Sociotechnical Change, Cambridge (MA), 259–265. (=Inside Technology 1)
Latour, Bruno, „Inscrire dans la nature des choses ou la clef berlinoise“, in: Alliage 1991 (6), 4–16. (= u.a. 2014: Der Berliner Schlüssel, Berlin.)
Steinbuch, Karl (1963 [1961]): Automat und Mensch. Kybernetische Tatsachen und Hypothesen. Zweite erweiterte Auflage der Erstauflage von 1961, Berlin/Göttingen/Heidelberg.
Steinbuch, Karl (1964?), „Man or Automation in Space?“, Vortragsmanuskript, Nachlass Karl Steinbuch, KIT-Archiv 27048_380. (=Vortragsmanuskripte 1964-1966)
Turing, Alan Matherson (1936), “On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungsproblem”, Proceedings of the London Mathematical Society Series 2 42 (1), 230–265. (Veröffentlicht 1937).