Abstract:
Das Forschungsfeld der Robotik und Sensorik in der Medizintechnik richtet den Blick zunehmend auf fortschrittliche, integrierte Systeme. Hierbei steht vor allem die Entwicklung hin zu leistungsfähigeren und hochfunktionalen Systemkomponenten im Vordergrund, welche gleichzeitig einen geringen Platz- und Energiebedarf aufweisen. Insbesondere wird die Bedeutung kleinerer und leichterer Systeme für minimalinvasive, chirurgische Eingriffe und bei mobilen Exoskeletten deutlich. Die konkreten Anwendungen sind sowohl auf strukturelle als auch auf funktionelle Integrität angewiesen, um strenge Sicherheitsstandards für den Einsatz innerhalb und außerhalb des menschlichen Körpers einzuhalten, während gleichzeitig Raum- und Gewichtsanforderungen minimiert werden sollen. ... mehrDaher gelten Nachgiebigkeit und Flexibilität als wichtige Aspekte für die Entwicklung von chirurgischen und tragbaren Geräten im Bereich der Medizintechnik. Dies gilt auch für die grundlegenden Komponenten der Aktuierung und Sensorik.
Sogenannte Intelligente Materialien reagieren auf externe Stimuli mit deterministischen Eigenschaftsveränderungen. Ausgewählte Intelligente Materialien verfügen daher neben ihrer strukturgebenden Funktionalität auch über die Fähigkeit, auf einen bestimmten Stimulus mit einer Formveränderung (Aktuierung) oder der Variation einer physikalischen Eigenschaft, wie z. B. dem elektrischen Widerstand (Sensorik), zu reagieren. Durch diese kompakte Kombination und Integration der Funktionen direkt in das Material selbst bieten Intelligente Materialien ein erhebliches Potenzial, um herkömmliche Systemdesigns in der Medizintechnik zu verbessern. Angesichts der großen Vielfalt verschiedener Intelligenter Materialien ist es jedoch erforderlich, kritisch zu untersuchen, in welchem Ausmaß ausgewählte Intelligente Materialien dazu beitragen können, die genannten technischen Herausforderungen in der Medizintechnik anzugehen.
Die vorliegende Dissertation untersucht daher Intelligente Materialsysteme auf Basis von Formgedächtnislegierungen, ferromagnetischen Materialien und piezoresistive Polymere für robotische und sensorische Anwendungen im Bereich der minimalinvasiven Chirurgie und der assistiven Exoskelette. Die Arbeit leistet damit einen grundlegenden Beitrag zur Erforschung der Nützlichkeit, Skalierbarkeit und des wirtschaftlichen Potenzials dieser ausgewählten Intelligenten Materialien. Dabei werden konkrete Ansätze vorgestellt, wie die technischen Eigenschaften der Nachgiebigkeit, Flexibilität, Miniaturisierung und Praktikabilität, im Vergleich zu herkömmlichen Aktuatoren, Sensoren und Materialien in Roboter- und Sensorsystemen verbessert werden können. Die Forschungsergebnisse sollen für Dritte ohne eine besondere technische Infrastruktur leicht übertragbar und anpassbar sein, um eine niedrigschwellige Implementierung zu ermöglichen. Als Methode wurden mehrere Intelligente Materialsysteme auf Basis von jeweils einem der genannten Materialien konzipiert. Dabei wurden die materialinhärente Aktuierbarkeit, die materialgebundene Sensorik, oder eine Kombination von beiden angewendet. Die Systeme wurden anschließend aufgebaut und ihre technischen Eigenschaften im Versuch experimentell evaluiert, um ihren Nutzen für den Einsatz in der Medizintechnik zu eruieren.
Als Beitrag dieser Dissertation zur medizintechnischen Forschung werden fünf Intelligente Materialsysteme vorgestellt, darunter drei Robotersysteme mit Formgedächtnislegierungen und zwei Sensorsysteme, welche ferromagnetische und piezoresistive Materialien einsetzen. Der Beitrag umfasst ein neuartiges, sich-selbst-zusammensetzendes System eines Kontinuumroboters mit einem Durchmesser von 15,4 mm. Wegen seines superelastischen Rückgrats aus Formgedächtnislegierung ermöglicht es eine omnidirektionale Biegebewegung bei einer Ausfahrlänge von bis zu 240 mm, z. B. für den Einsatz in der Gastroendoskopie. Die Nutzung der Superelastizität erhöht die Flexibilität, Beweglichkeit und den maximalen Arbeitsbereich des Roboters und minimiert gleichzeitig die Größe und das Gewicht.
Darüber hinaus wurde im Vergleich zu herkömmlichen Kontinuumsrobotern ein noch kompakteres, flexibles Instrument für die Laparoskopie entwickelt, das den Formgedächtniseffekt unmittelbar einsetzt. Dadurch konnten mit einem miniaturisierten Aktuierungsaufbau von weniger als 1 cm³ komplexe Formänderungen erzeugt werden. Die verwendete Formgedächtnislegierung verfügt auch über eine materialinhärente Sensoreigenschaft, wobei ihr elektrischer Widerstand mit der Formveränderung und Belastung korreliert. So konnte ein datengetriebenes Modell generiert werden, das die Schätzung der Form ohne weitere Unterstützung einer Bildgebung mit durchschnittlichen Fehlern von weniger als 3,6 mm ermöglichte.
Neben dem Einsatz der materialinhärenten Sensoreigenschaft von Formgedächtnislegierungen können chirurgische Instrumente, z. B. für endovaskuläre Eingriffe, auch mithilfe integrierter ferromagnetischer Materialien weiterentwickelt werden. Diese ferromagnetisch modifizierten Instrumente und ihre Bewegung im Körper können dann von einem neuartigen, tragbaren Hall-Sensorfeld erfasst werden, das seine eigene Biegeform mit absoluten Fehlern von unter 8,33º vor dem medizinischen Eingriff schätzen kann. Das Sensorfeld ermöglicht anschließend während des Eingriffs eine Instrumentenverfolgung mit euklidischen Distanzfehlern von unter 1,31 mm. Es kann für die Instrumentenverfolgung trotz des zusätzlichen Aufwands für die Formschätzung insgesamt eine höhere Genauigkeit erreicht werden, wobei der Platzbedarf für das Sensorsystem im Vergleich zu herkömmlichen Bildgebungsmethoden minimiert wird.
Über die Anwendung in chirurgischen Instrumenten hinaus können Intelligente Materialien wie piezoresistive Polymere auch als flexible und kostengünstige Kraftsensoren in additiv hergestellten, chirurgischen Trainingsphantomen eingesetzt werden. Die Trainingsphantome, z. B. des menschlichen Gefäßsystems, können durch die integrierte Sensorik nützliche patienten- und pathologiespezifische Trainingsszenarien abbilden.
Ein weiteres Anwendungsfeld für Intelligente Materialien in der Medizin ist die physische Rehabilitation und die Bewegungsunterstützung der Patienten nach einer Operation. Es war möglich, die physische Schnittstelle eines robotischen Exoskeletts mit nachgiebigen Aktuator-Sensor-Einheiten auszustatten, die auch eine Formgedächtnislegierung einsetzen. Diese Materialsysteme zeigen eine kontrollierbare Aktuierung von bis zu 62 N mit effektiven Kraftdifferenzen von 13,7 N bei einem Verbrauch von weniger als 10 W. Sie können damit zukünftig größere und schwerere konventionelle Aktuationsmethoden von physischen Schnittstellen von assistiven robotischen Exoskeletten ersetzen. Durch die verschiedenen gezeigten Arten der Hardwareintegration konnten fundierte, praxisrelevante Empfehlungen zu Systemdesigns, sowie der Auswahl, der Verarbeitung und der Implementierung von Intelligenten Materialien formuliert werden. Diese Dissertation umfasst dabei auch eine umfangreiche Diskussion sowohl der Verbesserungen als auch der Limitationen, die bei der Verwendung der ausgewählten Intelligenter Materialien beobachtet werden konnten.
Zusammenfassend zeigt diese Dissertation, dass Materialsysteme aus den drei untersuchten Materialgruppen der Formgedächtnislegierungen, ferromagnetischen Materialien und piezoresistiven Polymeren konventionelle Methoden der Aktuierung und Sensorik übertreffen können. Dies gilt insbesondere in Bezug auf Nachgiebigkeit, Flexibilität und Platzanforderung. Die vorgestellten Materialsysteme und ihre Komponenten können damit als nützliche Bausteine für zukünftige Anwendungen in der Robotik und Sensorik in der Medizintechnik dienen. Während die technische Machbarkeit und eine experimentelle Evaluation demonstriert wurden, bleibt die komplexe und ressourcenintensive Entwicklung hin zu real einsetzbaren medizinischen Geräten eine herausfordernde Aufgabe zukünftiger Forschung im Feld der Medizintechnik.
Abstract (englisch):
The research field of robotics and sensing in healthcare has been advancing towards more enhanced and integrated systems. This involves a focus on technology moving towards smaller size, higher performance, increasing functionality, and reduced energy demand, all concurrently. The growing importance of smaller and lighter systems for minimally invasive procedures and for wearable assistive exoskeletons is becoming evident. All these applications rely on both structural and functional integrity to adhere to stringent safety standards for deployment inside and outside the body, while simultaneously minimizing spatial and weight requirements. ... mehrThereby, compliance and flexibility are considered important aspects for the development of surgical equipment and wearables in the domain of healthcare technology. This consequently holds also true for the fundamental components that provide actuation and sensing.
Smart materials, often referred to as such due to their ability to undergo deterministic property changes in response to external stimuli, hold significant promise for augmenting conventional system designs in healthcare technology. These materials offer the most compact actuation and/or sensing capabilities alongside their structural integrity, as the materials themselves become functional, making additional actuation and sensing components obsolete. This makes them well-suited to meet the demanding requirements of this field. Confronted with the vast variety of different smart materials, a critical investigation must be undertaken to determine the potential of these materials for addressing significant technical challenges in the field.
This dissertation advances the forefront of healthcare technology by exploring smart material systems based on shape memory alloys, ferromagnetic materials, and piezoresistive polymers for robotic and sensing applications in the realms of minimally invasive surgery and assistive exoskeletons. By leveraging the availability, scalability, and economic potential of these selected smart materials, this research aims to enhance key technical aspects of robotic and sensor systems in healthcare, such as compliance, flexibility, miniaturization, and practicability. This is compared to conventional actuators, sensors, and materials. The findings are intended to be easily transferable and adaptable by other researchers and professionals, facilitating broader adoption and implementation without requiring specialized technical infrastructure. As a method, multiple smart material systems were designed based on each of the mentioned materials. This involved the use of material-inherent actuation, material-based sensing, or a combination of both.
As the main contribution of this dissertation, five smart material systems are presented comprising three robotic systems incorporating shape memory alloys and two sensor systems, deploying ferromagnetic and piezoresistive materials. The contribution comprises a novel self-assembling continuum robotic system measuring 15.4 mm in diameter, featuring a superelastic shape memory alloy backbone, enabling omnidirectional bending motion and extending up to 240 mm, e.g., for gastroendoscopy. Leveraging the superelasticity enhances the robots’ flexibility, dexterity, and workspace range while minimizing size and weight.
Furthermore, an even more compact flexible instrument in comparison to continuum robots was developed for laparoscopy, utilizing the immediate shape memory effect, and enabling complex shape changes with miniaturized actuation setups and a frame package size of less than 1 cm³. This shape memory alloy also features inherent self-sensing abilities, with its electric resistance correlating to shape and load. A data-driven model allows then for shape prediction without imaging support. It accurately estimates the instrument’s bending deflection, resulting in mean errors of less than 3.6 mm.
In addition to self-sensing shape memory alloys, surgical instruments, such as for endovascular interventions, can be further improved by integrating ferromagnetic materials. These enhanced instruments can then be tracked with Euclidean distance errors of below 1.31 mm by a novel, compliant wearable array of Hall sensors, estimating its own bending shape with absolute errors of below 8.33º prior to the medical procedure. Hence, despite the added effort for shape estimation, overall tracking can be improved, minimizing spatial footprint compared to conventional imaging methods.
Beyond the augmentation of surgical instruments, smart materials such as piezoresistive polymers can also be utilized to improve surgical training platforms as cost-effective force sensors. These sensors can be integrated into additively manufactured training phantoms of the human vascular system, offering patient and pathology-specific training scenarios.
Physical rehabilitation and daily assistance, which are essential and growing fields of healthcare, are further prime fields of application for smart materials. The physical interface of a robotic exoskeleton was successfully enhanced through the use of compliant actuator-sensor units featuring a shape memory alloy. Demonstrating a controllable actuation up to 62 N with effective force offsets of 13.7 N using less than 10 W, these smart material units are able to replace conventional bulky cuff actuation methods of assistive robotic exoskeletons.
Based on these demonstrations of integrating smart material hardware, valuable practical advice was gleaned regarding system design, material selection, material processing, and material integration. This encompasses a thorough discussion of both the enhancements and limitations encountered when deploying smart materials.
In summary, this dissertation demonstrates that material systems from the three studied material groups – shape memory alloys, ferromagnetic materials, and piezoresistive polymers – can surpass traditional methods of actuation and sensing, particularly in terms of compliance, flexibility, and space requirements. The presented material systems and their components can thus serve as useful building blocks for future applications in robotics and sensing in medical technology. While technical feasibility and experimental evaluations have been demonstrated, the complex and resource-intensive development towards fully operational medical devices remains a challenging task for future research in the field of robotics and sensing in healthcare.